Dresden: Die Waldschlösschenbrücke ist flacher und anschmiegsamer als das Blaue Wunder. (Maßstabgerechter Silhouettenvergleich: Henry Ripke Architekten).
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Mittwoch, 25. Februar 2015

Andreas Dresens Film »Als wir träumten« – was ich damals »träumte«, kann man hier lesen

Kürzlich feierte der neue Film von Andreas Dresen, »Als wir träumten«, in Leipzig Premiere. Dieser Film, der sich der Situation junger Leute unmittelbar nach der politischen Wende widmet, lief einige Tage vorher zur Berlinale 2015 im Wettbewerbsprogramm.

Im dazugehörigen Presseheft äußern sich Menschen aus den verschiedensten Lebensbereichen darüber, welche Träume sie in den Anfangsneunzigern hatten, welche Gefühle sie mit jener Zeit verbinden, welche Erinnerungen sie an damals haben.
Auch ich wurde gebeten, meine Träume von damals, meine Gefühle und Erinnerungen aufzuschreiben und für dieses Presseheft zur Verfügung zu stellen.

Einige dieser angeforderten Zuarbeiten schafften es dann doch nicht in das Heft, zu klein war der zur Verfügung stehende Platz und zu groß die Menge der Träume. Auch mein Beitrag fiel auf diese Weise raus.

Damit er nicht vergebens geschrieben wurde, veröffentliche ich ihn hier:

Am Nachmittag des 19. Dezember 1989, Dresden, Straße der Befreiung. Meine Kollegin – eine junge Punkerin – und ich verteilten selbst hektografierte Handzettel (ja, wir hatten im Büro ein Ormig-Gerät) an die in Richtung Hotel Bellevue strömenden Leute. Darauf stand: »Wer Helmut Kohl zujubelt, jubelt einem zu, der bis heute noch nicht die Oder-Neiße-Grenze anerkannt hat!« Wir wurden bedroht, beschimpft, junge, energische Männer wurden handgreiflich, man riss uns Packen der Handzettel aus den Händen, zündeten sie an oder warf sie in Papierkörbe. »Holt sie ja nicht dort wieder raus, sonst geht es euch an den Kragen!« Das war das Ende, bevor es überhaupt richtig anfing.

Aber es begann. Es begann die Zeit aufschwingender Euphorie ebenso wie die der sich krebsartig ausbreitenden Dummheit. Endlich konnte ich die richtigen Bücher lesen, die richtige Musik hören, wichtig scheinende Gedanken veröffentlichen. Und gleichzeitig wurde immer spürbarer, dass mein Leben bestimmt wurde vom dreisten Auftreten bestenfalls drittklassiger Kolonialverwalter.

Träume? Mein Traum war lange Zeit der von Wissen und Bildung als Möglichkeit, eine gutgemeinte, aber ziemlich übel gemachte Gesellschaft zu verändern. Um 1991 jedoch begann ich zu ahnen, dass Wissen und Bildung wohl mehr als Chancen zu begreifen sind, innerhalb einer üblen, aber attraktiv gemachten Gesellschaft eine kleine persönliche Heimat zu finden. Träume?

Eine knappe Generation später drängt sich mir ein Gedanke von Joseph Roth auf, den dieser in seiner Erzählung »Die Büste des Kaisers« zwar auf die Zeit nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gemünzt hatte, der mir aber auch heutzutage hilft, meine Beklemmungen zu formulieren: »Es war die Gesellschaft, die in allen Hauptstädten der allgemein besiegten europäischen Welt, unwiderruflich entschlossen, vom Leichenfraß zu leben, mit satten und dennoch unersättlichen Mäulern das Vergangene lästerte, die Gegenwart ausbeutete und das Zukünftige preisend verkündete.«


Mathias Bäumel